Testzone Afghanistan?¶
Als Reaktion auf die 9/11-Terroranschläge, bei denen mehr als 3.000 Menschen starben, antwortete am 07.10.2001 das Militärbündnis NATO mit einer von den USA angeführten Offensive gegen die Taliban. Die islamistische Taliban-Regierung Afghanistans unterstützte die für die Anschläge verantwortliche Terrorgruppe al-Qaida. Mit der UN-Resolution 1386 wurde im Dezember 2001 die internationale Schutztruppe ISAF geschaffen, eine Sicherheits- und Wiederaufbaumission unter Führung der NATO, an der auch die deutsche Bundeswehr beteiligt war. Offiziell endete dieser Einsatz im Jahr 2014. Die Bundeswehr blieb jedoch im Rahmen der darauffolgenden NATO-Mission Resolute Support in Masar-i-Scharif und der Nähe von Kundus.
Im Zuge des im Juni 2011 von US-Präsident Obama angekündigten schrittweisen Abzuges seiner Truppen wurde die gezielte Tötung (im Englischen „Targeted Killing“) von Feinden durch Drohnen (UAV) in den Mittelpunkt gerückt. Drohnen wurden spätestens ab dato zu einem zentralen Element der disruptiv-technologischen Kriegsführung in Afghanistan.
Doch fehlende Bodentruppen (HUMINT) waren nicht der einzige Grund dafür, dass die Drohne zur Waffe der Wahl wurde und Afghanistan zum Epizentrum des US-Drohnenkrieges machte.
Laut US-Präsident Joe Biden waren die amerikanischen Hauptziele des Einmarschs bzw. die Mission in Afghanistan, die Angreifer von 9/11 zur Rechenschaft zu ziehen und sicherzustellen, dass kein weiterer terroristischer Anschlag aus anderen Ländern heraus, in diesem Falle Afghanistan, durchgeführt werden kann. Nach den ersten zehn Jahren sollen diese bereits erreicht gewesen sein.
Was waren also die genauen Gründe und Ziele der NATO-Gemeinschaft, noch weitere zehn Jahre die eigene Militärpräsenz auszubauen und Hilfsorganisationen und mutige Bürgerinnen und Bürger in Afghanistan tatkräftig und finanziell zu unterstützen? Wurde Afghanistan zu einer Art Testfeld um “eine neue Weltordnung herzustellen”? Eine “*regelbasierte, wertgebundene und normorientierte Weltordnung”? So zumindest, die Bilanz von Herfried Münkler, Professor für Politische Theorie an der Berliner Humboldt-Universität, in seinem Essay Das Ende des Werteexports (28.8.21).
Um militärisch sicherzustellen, so Münkler, dass sich keine neuen terroristischen Basen und Einheiten in den ländlichen Gebieten von Afghanistan herausbilden, “hätte man auch damals schon auf eine Kombination von Späh- und Kampfdrohnen sowie dem gelegentlichen Einsatz von Spezialkommandos zurückgreifen können”.
Betrachten wir jedoch den Stand der Technik Anfangs der 2010er Jahre etwas genauer, so tritt die Frage in den Vordergrund, ob die militärtechnologischen Mittel des Westens für diese Art der präventiven Terrorbekämpfung damals wirklich schon vorhanden waren?
Vielmehr erweckt es den Anschein, dass die westlichen Militärs damals gerade in einem Designprozess steckten, der ihre schon seit langem gehegten Visionen einer netzwerkzentrierten Kriegsführung (Network Centric Warfare“, NCW) in Kombination zu jüngeren Strategien wie dem gläsernenen Gefechtsfeld in reichbare Nähe zu rücken ließen.
Enduring Freedom 01/21¶
Der Krieg in Afghanistan wurde unter dem Namen “Enduring Freedom” geführt. Dieser Krieg hätte nie beginnen dürfen.
7. Oktober 2001 - …¶
Im Laufe des Krieges wurde das Leben für Zivilisten von Jahr zu Jahr gefährlicher. Der Großteil der zivilen Opfer wurde in den vergangenen Jahren von den Taliban verschuldet. Sie richteten ihre Anschläge immer häufiger gegen Märkte, Schulen, Spitäler, also dorthin, wo sich vor allem Zivilisten aufhielten.
Unter Präsident Barack Obama hatte das Weiße Haus festgelegt, dass Personen die sich mit “Terroristen” unter einem Dach aufhalten, nicht als zivile Opfer geführt werden müssen. Frauen. Kinder. Ein Schattenkrieg. Die Washington Post veröffentlichte 2019 in ihren »Afghanistan Papers«, dass von 2001 bis dato 64.124 afghanische Sicherheitskräfte getötet wurden und 3600 afghanische Soldaten. 42.100 Taliban, 3814 “private Auftragnehmer” der USA, 2400 Mitglieder des US-Militärs, 1145 Soldaten der Nato und der Koalition, 424 Mitarbeiter von Hilfswerken und 67 Journalisten. Doch eine Bilanz lässt sich nicht in Zahlen ziehen.
Rund 3.600 Soldat*innen der westlichen Allianz ließen bis 2020 bei den Operationen ihr Leben. Fast 9.600 Soldat*innen aus 36 Nationen waren Teil der Operation, die sich zuletzt “Resolute Support” nannte. Deutschland war mit 1.300 Soldaten und Soldatinnen im Einsatz und stellte damit die zweitgrößte Truppenstärke. Die Zahl der Menschen, die auf humanitäre Hilfe im Land angewiesen sind, hatte sich seit Anfang 2020 von 9,4 Millionen auf 18,4 Millionen verdoppelt. Allein im vergangenen Jahr sind laut aktuellen Zahlen von UN-OCHA (Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten) knapp 380.000 Menschen innerhalb des Landes vor Kämpfen und Gefechten aus ihren Dörfern und Städten geflohen. Über 2,7 Millionen afghanische Flüchtlinge sind weltweit im Ausland registriert. Es gibt 4 Millionen Kinder, die nicht zur Schule gehen, und nach 20 Jahren Krieg leben inzwischen 72 Prozent der Afghan*innen unter der Armutsgrenze. Doch eine Bilanz lässt sich nicht in Zahlen ziehen.
Das Land stürzt in eine weitere humanitäre Katastrophe.
Den afghanischen Bürgerinnen und Bürgern steht ein zweiter islamischer Emirat der Taliban bevor. Alle Mitglieder des neuen Kabinetts sind islamische Geistliche und Mitglieder der Talibanbewegung. Keine Frau, kein Politiker der afghanischen Islamischen Republik und kein Vertreter von ethnischen Minderheiten ist vertreten. Mädchen ab der 7. Klasse ist der Schulbesuch weiterhin untersagt. An Universitäten dürfen Frauen nur noch von Männern getrennt und in Verschleierung studieren.
Ein erster Bericht von Amnesty International, der Internationalen Föderation für Menschenrechte (FIDH) und der Weltorganisation gegen Folter (OMCT) vom 21. September 2021 dokumentiert zahlreiche Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen aus den ersten Wochen des neuen Regimes: blockierte Hilfeleistungen, Einschüchterungen, Schläge, Folter von Ex-Regierungsmitarbeitern bis hin zu gezielten Tötungen von Zivilist*innen. Auch wurden tausende Häftlinge seit der Machtübernahme aus den Gefängnissen Afghanistan befreit, so Wahid Payman, ein afghanischer Journalist aus Kabul und Herat, der vor 4 Wochen Afghanistan mit Hilfe von Reporter ohne Grenzen verlassen hat.
15. - 31. August 2021¶
In den Tagen nach der Machtübernahme der Taliban drängten sich um die 40.000 Menschen auf kleinstem Raum um den Flughafen in Kabul, um ausgeflogen zu werden. Viele waren Männer. Nur wenige Frauen. Allein am 22.8. starben sieben Menschen im Gedränge. Es gab eine unbekannte Zahl an Verletzten. Ihre Namen kennen wir nicht. Ihre jeweiligen Funktionen für den Westen auch nicht. Eltern verlieren ihre Babys im Gedränge. Menschen stürzen in die Tiefe, weil sie sich verzweifelt an der Außenseite von US amerikanischen Transportflugzeugen klammern, bis sie sich nicht mehr halten konnten. Sie stürzen auf Häuserdächer. Sie sterben.
Viele von ihnen standen auf deutschen Evakuierungslisten -eben jene, die eine Aufnahmezusage der Bundesregierung bekommen haben. Ehemalige Ortskräfte für die Bundeswehr und deren Familien. Ehemalige afghanische Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen deutscher Stellen und Afghaninnen und Afghanen, die die Bundesregierung als besonders gefährdet einstufte. Wie gerade die besonders Gefährdeten unter ihnen zum Flughafen nach Kabul kommen konnten, hierfür gab es bis zum Ende keine adäquaten, d.h. sichere Lösungen - nicht bis zum Tag des Abflugs der letzten drei deutschen Transportmaschinen, dem 26. August 2021.
Viele Menschen, die es bis zum Flughafentor dennoch schafften und ihre gültigen Ausreisedokumente zur Hand hatten, wurden nicht eingelassen. Das US-Militär konnte sie nicht identifizieren an den Flughafentoren, weil sie nicht bei den US-Behörden gelistet waren. Ihre Daten wurden nicht vom Auswärtigen Amt weitergegeben. Es konnten 4.587 Personen während dieser Zeit unter Rettungsbemühungen der Bundesrepublik gerettet werden.
“Die Zeit wird nicht ausreichen, alle auszufliegen, die wir ausfliegen wollen.”, so Bundesaußenminister Heiko Maas noch ein paar Tage vor dem 26.8., dem Tag, an dem die letzten drei deutschen Transportmaschinen Afghanistan verließen. Was aus ihnen wird und wurde ist unklar. Sie verstecken sich, verbergen ihre Identität. Nicht alle haben das Glück im Unglück von Wahid Payman.
“We will not forgive. We will not forget. We will hunt you down and make you pay.”¶
Es kam auch zu mehreren Anschlägen in diesen Tagen der Machtübernahme Kabuls von den Taliban. Am Montag, dem 30. August wurden Raketen aus dem Kabuler Stadtgebiet auf den Flughafen Kabul abgefeuert. Sie schlugen jedoch in dem nahe gelegenen Stadtteil Salim Karwan in einem zivilen Wohngebiet ein, nachdem sie von Flugabwehrraketen abgeleitet wurden. Mindestens sechs Zivilisten kamen hierdurch ums Leben. Am Donnerstag, den 26. August starben mindestens 182 Menschen durch einen Selbstmordattentäter am Kabuler Flughafen. Die Terrorgruppe “Islamischer Staat Khorasan Province” (IS-K) bekannte zu ihnen. Der IS-K ist ein auf rund 400-500 Mitglieder geschätzter IS-Ableger, der im letzten Jahr bereits mehrere Anschläge in Kabul, und dies in einer unvorstellbaren Grausamkeit durchführte. Hierunter zählen die Morde auf der Entbindungsstation einer Klinik von “Ärzte ohne Grenzen”. Gezielt töteten sie Hebammen, Mütter und ihre Neugeborenen im Mai letzten Jahres. “Die Angreifer sind durch die Räume gegangen und haben Mütter in ihren Betten erschossen. Systematisch”, sagte Afghanistan-Koordinator Frederic Bonnot. Auch den Anschlag im Mai diesen Jahres auf die Mädchen einer Schule der schiitischen Minderheit Hasara in Kabul verübte die IS-K. Es starben 90 Mädchen. Über 240 wurden verletzt.
Nach dem Selbstmordanschlag im Kabuler Flughafen kündigte Joe Biden Vergeltung mit den oben aufgeführten Worten an: “We will not forgive. We will not forget. We will hunt you down and make you pay.”
Bereits am Freitag, dem 27. in der ostafghanischen Stadt Dschalalabad und am Sonntag nahe dem Kabuler Flughafen trat diese durch US-Drohnenanschläge in Kraft.
In Dschalalabad “wurden zwei hochrangige ISIS-Ziele” getötet, so der Generalmajor Hank Taylor, Vizechef des Vereinigten Generalstabs für Regionale Operationen in Afghanistan. Pentagon-Sprecher John Kirby präzisierte kurze Zeit später, es handele sich um “ISIS-K-Planer und Verbindungsleute”. Ob diese nun in direkter Verbindung zum Flughafenanschlag standen, ging dabei nicht hervor. Anwohner berichteten währenddessen, dass “ein Mann, eine Frau und ein Kind” einer Familie getötet worden seien, so das Nachrichtenportal Ariana, das auch unter Taliban versucht unabhängig Bericht zu erstatten.
Auch bei dem Präventivschlag des selben Tages, nahe dem Kabuler Flughafen durch eine US-Kampfdrohne auf ein Fahrzeug, kamen zehn Zivilisten ums Leben. Der US-Geheimdienst hatte einen weißen PKW acht Stunden lang verfolgt und glaubte, es säßen IS-K Kämpfer darin, sagte US-General Kenneth McKenzie.
Die Untersuchung ergab, dass das Auto des Mannes auf einem Gelände gesehen wurde, das mit IS-K in Verbindung steht, und seine Bewegungen stimmten mit anderen Geheimdienstinformationen über die Pläne der Terrorgruppe für einen Angriff auf den Flughafen von Kabul überein. Irgendwann sah eine Überwachungsdrohne, wie Männer scheinbar Sprengstoff in den Kofferraum des Autos luden. Erst nach dem Beschuss stellte sich heraus, dass es sich um Wasserbehälter handelte.
Bei dem Drohnenangriff starben Zemari Ahmadi, ein langjähriger Mitarbeiter einer US-Hilfsgruppe, drei seiner Kinder, Zamir (20), Faisal (16) und Farzad (10), Ahmadis Cousin Naser, 30, drei Kinder von Ahmadis Bruder Romal, Arwin (7), Benyamin (6) und Hayat (2) und zwei 3-jährige Mädchen, Malika und Somaya.
War on Error keeps on goin’¶
“We see how the war on terror in Afghanistan started and how it is ending now: It’s with drones and civilian casualties,” sagte der afghanische Journalist Emran Feroz am 30. August in einem Interview mit Democracy Now!. Bereits der allererste Angriff am 7. Oktober 2001 traf nicht Taliban-Chef Mullah Omar, sondern namenlose Afghanen. “Dieses Szenario hat sich stets wiederholt. Bis heute”.
Die USA werden weiterhin in Afghanistan Terrorbekämpfung verüben, so viel ist sicher -lediglich nicht mehr mit massiver militärischer Präsenz vor Ort wie in den letzten Jahren, sondern “in Form von Tausenden von Spezial-Operationen und mit CIA-Personal, mit Drohnen und bemannten Luftangriffen und Hunderten von Cruise Missiles auf Schiffen und U-Booten.”, in erster Linie aus Basen in Zentralasien (die USA führt derzeit Gespräche hierüber mit Usbekistan), aus Pakistan und von Flugzeugträgern im persischen Golf.